Essenz der Sufilehren

Es gab einmal einen Rosenstrauch. Er war mit Sorgfalt gepflanzt, und so wuchsen die Wurzeln tief in die Erde hinein, die lange darauf vorbereitet worden war, ihn zu empfangen. Diese Wurzeln waren Abraham. Als die Rose heranwuchs, musste sie richtig beschnitten werden, sonst wäre sie wild gewuchert und hätte nicht erfüllt, was der Gärtner mit ihr vorhatte. Dank der guten Erde, den tiefen Wurzeln und dem Beschneiden war der Stamm gerade und stark. Dieser Stamm war Moses. Eines Tages kam in der Knospe die vollkommenste rote Rose 

hervor, die man je gesehen hatte. Die Knospe war Jesus. Die Knospe ging auf; die Blüte war Mohammed."

Der Scheich hielt inne, wandte sich um und sprach zu seiner Frau. Sie verließ den Raum und kehrte mit einer kleinen gläsernen Phiole zurück. Er wies auf mich, und sie kam zu mir. „Nimm sie", sagte er, „und sag mir, was das ist." Ich nahm die Phiole in die Hand und roch daran. „Es ist Rosenwasser", antwortete ich. „Attar von Rosen. Es ist die Essenz der Rose."

Der Scheich lächelte und bedeutete mir, ich solle zu ihm kommen und mich vor ihm niederlassen. Die Kraft, die ich in seiner Nähe fühlte, war überwältigend. Er nahm meine Hände in die seinen. „Hör aufmerksam zu und denke auf deiner Reise an das, was ich dir zu sagen habe. Heute braucht die Menschheit den Duft der Rose. Eines Tages wird sie nicht einmal dessen bedürfen."

Dann beugte er sich vor, küsste meine Hände und führte sie an seine Stirn. Seine rechte Hand über meinen Kopf haltend, hauchte er in den Raum hinein: „Huuuuu."

(aus „Ich ging den Weg des Derwisch" von Reshad Feild, Kapitel 2)

Diese lebende Schule ist die Destillation von einer langen Linie von Unterweisungen in der Sufi-Tradition und somit sprechen wir von der Essenz der Sufilehren. Der Sufismus, der oft der mystische Zweig des Islam genannt wird, hat sich immer, wie die mystischen Traditionen aller großen Religionen, mit der Einheit aller Existenz beschäftigt - weit jenseits religiösen Glaubens oder religiöser Formen. In seiner Essenz wird er der „Weg der Nichtexistenz" oder der „Weg der Rückkehr"  (zum Einen Absoluten Sein, indem wir unsere Vorstellung des Getrenntseins überwinden) genannt. Die Essenz des Sufismus spricht nicht einfach über den Sinn und Zweck des Lebens und die herausragende Rolle und Verantwortung des Menschen darin, sondern sie ist die lebendige Entfaltung dieses Sinns und Zwecks. In den Worten des Gebets der Sarmoun-Bruderschaft: „Er, der weiß und weiß, dass er ist, er ist weise. Ihm sollen die Menschen folgen. Allein durch seine Präsenz können Menschen verwandelt werden."
 

In der Präsenz sein

 

Aufnahme eines Vortrags von Reshad Feild in Solothurn, 18. April 2013 mit deutscher Übersetzung von Barbara Feild.

Die drei Pole

Es war einmal, vor vielen, vielen Monden und lange, nachdem der Prophet Mohammed (Friede und Segen sei mit ihm) zu uns gekommen war, um die Linie der Propheten zu „besiegeln", indem er erklärte, dass es keiner weiteren Propheten bedürfe (nachdem dieser Aspekt von Gottes Schöpfungsgeschichte endlich vollendet war), da gab es in dieser Welt eine Zeit, wo es für die Menschen notwendig wurde, zurückzublicken und zu wissen.

So geschah es, dass vor etwa siebenhundert Jahren die „drei Pole", wie wir sie heute nennen, aufeinander trafen. Es waren dies der Pol der Liebe, der Pol des Wissens und der Pol der Macht. Zu jener Zeit der Geschichte wurden sie repräsentiert – das heißt „wieder präsentiert" – von Mevlana Jalalu'ddin Rumi, Muhyiddin Ibn Arabi und Abdul Qadir Gilani. (...)

Für unsere Zeit nun – obwohl wir die Namen dieser großen Meister, die vor siebenhundert Jahren lebten, kennen und lieben sollten – ist eigentlich nur wichtig, was sie jetzt für uns bedeuten, wenn wir uns daran erinnern, dass es eine Quelle allen Lebens gibt, einen Gott und einen Schöpfer (...) Es ist gut und nützlich, sie zu kennen und die alten Lehren in unsere Essenz einsinken zu lassen; doch zu jedem Zeitpunkt der Geschichte haben sich neue Methoden und neue Ansätze zur Förderung des spirituellen Wachstums als notwendig erwiesen. Diese werden von bewussten Menschen entwickelt als Ergebnis eines alchimistischen Prozesses der Transformation, der die ganze Zeit hindurch vonstatten geht. (...)

Heute befinden wir uns in einem entscheidenden Stadium dessen, was einmal das „Experiment des Lebens auf der Erde" genannt wurde. Wir haben die Macht, unseren Planeten zu zerstören. Wir besitzen das Wissen, die Instrumente für unsere völlige Selbstzerstörung zu produzieren; wir haben aber auch das Potential für die einzige wirkliche Macht, die es gibt, und das ist das Wissen um unsere völlige Abhängigkeit von der einen Quelle allen Lebens, dem einen Gott, Allah – oder unter welchem Namen er auch immer erkannt werden soll.
Dieses ganze Potential ist mit Liebe verbunden und in sie versenkt; diese Liebe wird gesehen und erkannt als der erste Grund für das Überfließen der Göttlichen Essenz, um Leben in unsere Welt zu bringen, und als die vollkommene Möglichkeit, uns selbst und somit den Sinn und Zweck des Lebens auf der Erde zu erkennen. „Ich war ein verborgener Schatz und sehnte Mich da­nach, erkannt zu werden; so erschuf Ich die Welt, damit Ich er­kannt werde" (Hadith des Propheten Mohammed, Friede und Segen seien mit ihm). (...)

In unserer Schule besteht die Möglichkeit, dass alle drei Pole, die Pole der Liebe, des Wissens und der Macht, zusammengeführt werden zu dem, was ich jetzt „das Seil Gottes" nennen möchte. An diesem Seil mit seinen drei Strängen können sich die Wahrheitssucher von morgen festhalten. Wir haben die Aufgabe, dieses Seil Gestalt annehmen zu lassen und dafür zu sorgen, dass es hier auf der Erde gefunden werden kann. Es ist unser Beitrag zum Verständnis der Einheit. Wir stehen mit dieser Aufgabe nicht alleine da. Im Wald gibt es viele Bäume. Doch dafür brauchen wir diese lebende Schule. Wir brauchen die Treue und den Beistand der Mitglieder der Schule. Wir brauchen die Person, deren Aufgabe es ist, darauf zu achten, dass die Schule ihre Funktion richtig erfüllt und der Essenz nicht den Weg versperrt. Wir brauchen das Wissen um die Einheit, welches der Erkenntnis des wahren Selbst entspringt, und wir benötigen die Zutat, die die drei Pole zusammenzubringen vermag, bis sie endlich als Einheit gesehen werden können.

(aus „Innere Arbeit" von Reshad Feild, Kapitel „Die drei Pole")

Lass uns die Vereinigung suchen

Höre, oh, innig Geliebter!
Ich bin die Wirklichkeit der Welt, die Mitte des Kreises,
Ich bin die Teile und das Ganze.
Ich bin der Wille, mein Platz ist zwischen Himmel und Erde.
Ich habe Wahrnehmung erschaffen in Dir, nur damit
Du Gegenstand Meiner Wahrnehmung seist.

Wenn du dann Mich wahrnimmst, so nimmst du dich wahr.
Aber du kannst Mich nicht durch dich selbst wahrnehmen.
Mit Meinen Augen siehst du Mich und siehst du dich.
Mit deinen Augen kannst du Mich nicht sehen.

Innig Geliebter!
Ich habe so oft nach dir gerufen, und du hast Mich nicht gehört.
Ich habe Mich dir so oft gezeigt, und du hast Mich nicht gesehen.
Ich war so oft feiner Duft, und du hast Mich nicht gerochen.
Schmackhafte Speise, und du hast Mich nicht geschmeckt.
Warum kannst du Mich nicht erreichen durch
das Ding, das du berührst,
oder Mich eratmen in den süßen Düften?
Warum siehst Du Mich nicht?
Warum hörst Du Mich nicht?
Warum? Warum? Warum?
Für dich übertrifft Mein Entzücken jedes andere Entzücken
und die Freude, die Ich dir bereite, übersteigt jede andere Freude.
Für dich bin Ich all den anderen guten Dingen vorzuziehen.
Ich bin Schönheit, Ich bin Gnade.

Liebe Mich, liebe Mich allein,
Liebe dich in Mir, in Mir allein.
Klammere dich an Mich,
niemand ist innerlicher als Ich.
Andere lieben dich um ihretwillen,
Ich liebe dich um deinetwillen
und du, du fliehst Mich.

Innig Geliebter!
Du kannst Mir nie gerecht werden,
denn wenn du dich Mir näherst,
so nur, weil Ich Mich dir genähert habe.
Ich bin dir näher als du selbst,
als deine Seele, als dein Atem.
Wer unter all den Geschöpfen
wird dich behandeln, wie Ich es tue?
Ich bin deinetwegen auf dich eifersüchtig,
Ich will nicht, dass du anderen gehörst,
nicht einmal dir selbst. Sei Mein, sei für Mich, wie du in Mir bist,
obwohl du dessen nicht einmal gewahr bist.

Innig Geliebter!
Lass uns die Vereinigung suchen,
und wenn wir die Straße finden,
die zur Trennung führt,
werden wir die Trennung aufheben.
Lass uns gehen Hand in Hand.
Lass uns eintreten in die Gegenwart der Wahrheit.
Lass sie unser Richter sein
und ihr Siegel auf unsere Einheit pressen
in Ewigkeit.

Muhyiddin Ibn Arabi 

 

Fürchte nicht das Nicht-Sein.
Wenn du etwas fürchten möchtest,
fürchte die Existenz,
die du jetzt hast.
Deine Hoffnung für die Zukunft,
deine Erinnerungen an die Vergangenheit,
das, was du dein Selbst nennst,
sind nichts.
So wird nichts weggenommen
von nichts,
und ein Nichts
wird absorbiert
von einem Nichts.

Mevlana Jelalu'ddin Rumi

 

 

Video: Lass uns die Vereinigung suchen
Text von Muhyiddin Ibn Arabi (vollständiger Text links in der mittleren Spalte)

Ein kurzer Film von Zsusanna Nyul mit Musik des Vastearthorchestra.