Muhyiddin Ibn Arabi

»Welche Herrlichkeit!
Ein Garten inmitten der Flammen!
Mein Herz hat sich für jegliche Form geöffnet:
Es ist eine Weide für Gazellen,
und ein Kloster für christliche Mönche,
und ein Tempel für Götzenbilder,
und die Kaaba der Pilgernden,
und die Tafeln der Tora, und das Buch des Korans.
Ich folge der Religion der Liebe:
Welchen Weg die Kamele der Liebe auch einschlagen,
das ist meine Religion und mein Glaube.«

Wie bei jedem großen Menschen, ranken sich auch bei Muhyiddin Ibn Arabi (1165–1240) um die sachlich belegten Kenntnisse über seinen Lebenslauf eine Vielzahl von Legenden. Doch oft sind es gerade diese, die den wahren Charakter und den Grund für die Existenz eines religiösen Meisters am treffendsten widerspiegeln; denn ein solcher Mensch ist in dieser Welt das, was andere Menschen in ihm erkennen und aus ihm machen. So bezeugen die vielen Geschichten und Legenden um Ibn Arabi seine absolute Meisterschaft in der Funktion als geistiger Lehrer und Führer (Scheich). Er wird auch heute noch von vielen Moslems »der größte Meister (al-Shaykh al-Akbar)« genannt.

Muhyiddin Abu Abdallah Muhammadi Ibn Ali Ibn Arabi al-Tai al-Hatimi al-Andalusi wurde im heute spanischen Murcia in einer gut gestellten Familie geboren. Kriegsereignisse zwangen diese 1172, nach Sevilla zu ziehen, wo Ibn Arabi seine Jugend verbrachte. Auf ausgedehnten Reisen in Andalusien, Afrika und dem Mittleren Osten kam er schon früh in persönlichen Kontakt mit den größten Mystikern, Geistlichen und Philosophen seiner Zeit. Längere Zeit blieb er in Ägypten, im Irak, in Syrien und in der heutigen Türkei. Im Jahre 1223 ließ er sich in Damaskus nieder, wo er mit einem Kreis von Schülern bis zu seinem Tode verweilte.

Obwohl er sich als unverblümter Kritiker von religiösem und philosophischem Dogmatismus zahlreiche Feinde schuf, wurde und wird er bis heute als einer der bedeutendsten Sufis aller Zeiten und als Lehrer von unerreichtem Status verehrt. Titel wie »größter Meister«, »Pol des Wissens« oder »Doktor Maximus« zeugen von seiner Anerkennung in Ost und West. Ibn Arabi lehrte als erster Vertreter des Sufismus und mit großer Klarheit der Vision die Absolute Einheit aller Existenz und die Wege Ihrer Selbstoffenbarung – eine Botschaft, der gerade in Zeiten aufkeimender religiöser Intoleranz und fundamentalistischer Verblendung ein unschätzbares Potenzial für die interkulturelle Verständigung innewohnt.

Dank seiner vielen gut erhaltenen Schriften ist Ibn Arabis Vita relativ genau dokumentiert. Er verbrachte sein ganzes Leben im Studium, als Schriftsteller und als geistiger Lehrer. Zugleich setzte er sich in seinem sozialen Umfeld und in der Politik ein, was ihn zum Berater einiger Könige machte. Der Umfang seiner Arbeit und seines Wissens ist enorm; seinem literarischen Schaffen werden nach neuester Forschung mindestens 350 zum Teil sehr umfangreiche Werke zugeschrieben. Nicht ohne Grund wird Ibn Arabi in gewissen islamischen Traditionen »der Pol des Wissens« genannt.

Die Zeit, in der Ibn Arabi wirkte, war auch für Juden und Christen turbulent und geistig sehr bewegt. Es war eine Zeit, in der alle drei abrahamitischen Religionsgemeinschaften untereinander in starker, direkter Berührung standen. Ibn Arabis Werk kann auch heute noch versöhnend wirken, denn unter der Oberfläche beten alle drei auf Abraham zurückgehenden Religionsgemeinschaften zum selben Gott.

Stefan Bommer

(Artikel unter www.chaliceverlag.ch)